Der Europawahlkampf ist ein Experiment: Nicht so sehr die Bürger, sondern die Eliten wollen die Europäische Union von oben herab politisieren, um dem vermeintlichen „Monstrum Brüssel” mehr Akzeptanz zu verschaffen. Der Sieger des Urnengangs Ende Mai soll der nächste Präsident der Europäischen Kommission werden; deswegen sind die Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien nun schon seit Wochen kreuz und quer durch Europa auf Wahlkampftour.

Ob am Ende bessere Umfragewerte für die Union auf dem Papier stehen (das meint die hochtrabende politikwissenschaftliche Rede von der „Legitimität” meistens nur), sei dahingestellt, aber die Grundintention ist richtig: Eine transnationale politische Gemeinschaft braucht transnationale Politik. Die Frage ist nur, ob diese Transnationalisierung – so wie sie im Moment geschieht – nicht auch ganz unbedachte Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt.

Am deutlichsten zeigen sich diese am Beispiel Ungarn, wo unter Viktor Orbáns Führung eine illiberale Demokratie zementiert wird – und zwar mit Hilfe von Orbáns Freunden in der Europäischen Volkspartei. Die braucht nämlich die Stimmen von Orbáns Partei Fidesz dringend. Mehr supranationale Demokratie heißt in diesem Fall: Weniger Demokratie in einem Mitgliedsstaat.

Joseph Daul, seines Zeichens Präsident der EVP, machte direkten Wahlkampf für Orbán in Ungarn, wo am 6. April eine neue Volksvertretung gewählt wurde. Der Auftritt des Franzosen schockierte die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Intellektuellen, die immer darauf hinweisen, Orbán werde vom europäischen Mainstream geächtet. Neutrale Organisationen wie die OSZE bemängelten, Fidesz habe bei den ungarischen Wahlen einen unfairen Vorteil genossen.

Daul aber gratulierte seinem Parteifreund Orbán herzlich und lobte ihn dafür, den Bürgern immer die Wahrheit gesagt zu haben. Diese Formulierung war doppelt skandalös: Zwar sollte sie wohl eine Anspielung auf den früheren sozialistischen Premier Ferenc Gyurcsány sein, der 2006 zugegeben hatte, die Wähler vor dem Urnengang über die Haushaltslage belogen zu haben. Aber sie spricht der Kritik der Europäischen Kommission an Orbáns Einschränkungen der Medienfreiheit Hohn. Wer braucht schon ein kritisches Fernsehen, wenn der fürsorgliche Vater der Nation immer die Wahrheit sagt?

Darüber hinaus legitimierten Dauls Worte auch Orbáns Tiraden gegen die EU – die der ungarische Premier mit einer Besatzungsmacht verglichen hat. Warum Christdemokraten, die Baumeister der europäischen Einigung in den fünfziger und sechziger Jahren, einen solchen Politiker unterstützen, bleibt ein Rätsel. Es lässt sich wohl nur mit der Antwort „zynisches Machtkalkül” auflösen. Offenbar ist auch nicht jedem Konservativen wohl dabei: Während der TV-Debatte der europäischen Spitzenkandidaten in Maastricht kam Jean-Claude Juncker sichtlich ins Schwitzen, als er seine unverbrüchliche Parteifreundschaft mit Orbán und Silvio Berlusconi erklären sollte.

Doch, so mag man einwenden, sind die supranationalen Parteien ja nicht dazu da, innerfamiliäre Angelegenheiten in den Mitgliedsstaaten in Ordnung zu bringen. Im Extremfall mag man mit Scheidung drohen – so wie auf der Linken einmal mit dem slowakischen Premier Robert Fico geschehen; aber andernfalls gilt es, die Souveränität der Nationen zu achten.

Es gibt in der EU keine inneren Angelegenheiten

Dies übersieht zweierlei: Eigentlich gibt es in der EU keine inneren Angelegenheiten im strikten Sinne mehr. Solange ein Land eine Stimme im Europäischen Rat hat (die ihm bei anhaltenden Verletzungen der europäischen Grundwerte allerdings entzogen werden sollte), bestimmt es die Regelungen für alle EU-Staaten mit. Oder, drastischer gesagt: Wir Deutsche werden auch von Orbán regiert.

Zum anderen sollte das Europaparlament doch gerade ein Gegengewicht zum Europäischen Rat sein, in dem die Regierungen penibel darauf bedacht sind, sich nicht gegenseitig bloßzustellen oder gar anzugreifen. Im Rat ist Ungarn auch nie offen kritisiert worden.

Deswegen ist es umso wichtiger, dass die Europaabgeordneten sich gleichzeitig als Repräsentanten für bestimmte politische Anliegen und als Hüter eines gesamteuropäischen Interesse verstehen – und nicht, wie beispielsweise die derzeitigen Fidesz-Abgeordneten in Brüssel und Straßburg, als „Botschafter Ungarns”.

Supranationale europäische Parteifamilien – auch nicht die Zusammenschlüsse der großen Volksparteien – sind offenbar derzeit nicht in der Lage, ebenso effektiv wie viele nationale Parteien ihre ideologischen Ränder zu kontrollieren. Auch die schwärzesten Schafe werden noch in der Herde gehalten. Vielleicht kann aber die mächtigste politische Figur in Europa eine Art Ausfallbürgschaft übernehmen. Am heutigen Donnerstag empfängt Angela MerkelViktor Orbánin Berlin. Was sie ihm sagt, sollte alle Bürger Europas interessieren.